Spektakuläres Manöver: So stoppte Frankreichs Marine einen russischen Tanker
Sorge um die 80 Windräder im Meer könnten die französische Marine zu diesem Präzedenzfall gebracht haben: Ein unbekanntes Schiff kreuzte stundenlang nahe den Rotoren des grössten Windparks Frankreichs, einige Kilometer vor Saint-Nazaire im Atlantik. Dieses Manöver alarmierte die Behörden – und sie griffen hart durch. Der Kapitän des Öltankers Boracay wurde zwischenzeitlich in Gewahrsam genommen, während Russlands Präsident Wladimir Putin Frankreich «Piraterie» vorwarf. Mittlerweile ist die Besatzung wieder frei, der Tanker durfte seine Fahrt fortsetzen.
Zuletzt waren mehr Details zur Festsetzung der Boracay bekannt geworden. Schon am 27. September hatte das Schiff die französische Hafenpolizei beunruhigt: Der 240 Meter lange Tanker verliess nach dem Ärmelkanal die übliche Nord-Süd-Route. Stattdessen steuerte er den Windpark an, fuhr dort offenbar im Kreis und hielt sich stets an der Grenze zu französischen Gewässern. Die Behörden wurden misstrauisch. Warum blieb der Tanker dort, obwohl er weder Fracht ablieferte noch aufnahm? Doch die Funkkommunikation liess die Behörde ratlos zurück: Sie konnte keine eindeutige Nationalität des Schiffs feststellen.
Russisches Öl unter wechselnder Flagge
Schliesslich stoppte ein französisches Militärschiff die Boracay. Marinesoldaten forderten Zugang an Bord und beriefen sich, wie die Zeitung Le Monde berichtet, auf Artikel 110 des Seerechtsübereinkommens von Montego Bay.
Dieser erlaubt es, ein Schiff auf hoher See zu stoppen und zu kontrollieren, wenn die Nationalität unklar ist. Frankreich schuf damit wohl einen Präzedenzfall beim Umgang mit der sogenannten russischen Schattenflotte, zu der die Boracay vermutlich gehört: Die Flotte transportiert russisches Öl, fährt jedoch unter wechselnden Flaggen. So umgehen die Tanker die europäischen Sanktionen gegen fossile Importe und sichern Russland weiterhin lukrative Einnahmen. Bislang wurden die Tanker der Schattenflotte zwar schon häufiger überprüft, aber nicht dauerhaft festgesetzt; auch ihre Besatzung blieb unbehelligt. Zumindest nach dem, was in der Öffentlichkeit bekannt ist.
Fünf Namen und sieben Flaggen seit 2007
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zufolge umfasst diese Flotte bis zu 1'000 Schiffe. «Wir schätzen, dass etwa 40 Prozent des Krieges durch den Verkauf von Öl – trotz der Sanktionen – finanziert werden», sagte Macron. Unklar ist noch, ob die Boracay auch dazu gedient haben könnte, russische Drohnen starten zu lassen.
Das 244 Meter lange Schiff fuhr vor Frankreich unter beninischer Flagge, änderte aber bereits mehrfach seinen Namen und seine Flagge. Es war zunächst in Gabun, später auf den Marshallinseln und in der Mongolei registriert. Seit seiner Fertigstellung im Jahr 2007 trug es angeblich fünf verschiedene Namen und sieben Flaggen.
Trotz der ständigen Flaggenwechsel lässt sich das Schiff anhand seiner Immatrikulationsnummer 933 281 0 identifizieren. Bereits im Frühjahr hatten estnische Behörden das Schiff überprüft, zahlreiche Mängel festgestellt und es dennoch weiterfahren lassen, nachdem Dschibuti zugesichert hatte, es anlanden zu lassen.
Schwarze Masken und Maschinengewehre
So leicht liessen sich die französischen Behörden offenbar nicht abspeisen. Einmal an Bord liessen sich die Soldaten nicht von der Besatzung überzeugen und schalteten die Staatsanwaltschaft in Brest ein. Diese eröffnete einen Tag später Ermittlungen wegen «mangelnder Nachweise für die Staatszugehörigkeit des Schiffes» und «Weigerung, Anweisungen zu befolgen». Der Tanker erhielt die Anweisung, seinen Kurs zu ändern und einen vom Staatsanwalt festgelegten Punkt anzusteuern. Seitdem lag er rund 23 Kilometer vor der französischen Küste vor Anker; bis zu diesem Freitag. Auf Drohnenaufnahmen französischer Medien sind Soldaten mit schwarzen Gesichtsmasken und Maschinengewehren an Bord zu sehen.
Allerdings hat die Staatsanwaltschaft offenbar wenig gegen die Besatzung in der Hand: Dem Kapitän wurde die Missachtung polizeilicher Anweisungen vorgeworfen. Sein Vertreter wurde früher freigelassen. Andere Vorwürfe, wie die unsichere Beflaggung, konnten der Crew nicht persönlich angelastet werden. Sowohl der Kapitän als auch sein Vertreter besitzen die chinesische Staatsangehörigkeit.
Möglicherweise in Drohnenflüge verwickelt

Russlands Staatschef kritisierte die Festsetzung des Tankers. «Der Tanker ist in neutralen Gewässern ohne jegliche Rechtfertigung beschlagnahmt worden», sagte Putin am Donnerstag bei einem Diskussionsforum in der russischen Schwarzmeerstadt Sotschi. Es habe sich keine militärische Fracht an Bord des Schiffs befunden. Das ist zwar richtig – aber in dem Fall geht es um die öffentlichen Sanktionen gegen Russland. Erst im Juli hatte die EU beschlossen, Ölimporte aus Russland strenger zu unterbinden und die sogenannte Schattenflotte gezielt zu verfolgen.
Öffentliche Schiffsverkehrsdaten zeigen: Die Boracay legte im russischen Primorsk nahe Sankt Petersburg ab und war offiziell auf dem Weg zur Westküste Indiens. Möglicherweise war sie auch in Drohnenflüge über den Flughäfen von Kopenhagen und Oslo verwickelt, die am 22. September den Betrieb in Oslo lahmlegten, 20'000 Passagiere strandeten deswegen. Dänische Medien nannten zuletzt mehrere Schiffe, von denen die Drohnen gesteuert worden sein könnten – darunter auch der Tanker, den französische Soldaten nun aufbrachten. Die dänische Polizei konnte die Verantwortlichen bisher jedoch nicht ermitteln.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.